Unser Schuld Erbe aus der Nazizeit

on 28. November 2020

Hart aber herzlich. Und diese Schlagzeile kommt von Herzen. Denn sie kommt aus einer Betroffenheit die mich nun, nach bald einem Jahr Lockdown Wahnsinn und um sich greifender Virusangst ergreift. Mir ist klar dass du durch das Wort Nazi vielleicht getriggert wirst. Denn es erinnert uns an die schlimmste Zeit und an die größten Ungerechtigkeiten die noch unsere Eltern emotional zerstörten, und die nun Generationen danach posttraumatisch aufgearbeitet werden. Es war ein Völkermord, ein unaussprechliches Verbrechen. Es war aber auch eine Zeit in der ein Schuldkomplex aus Schweigen und Zusehen kreiert wurde der bis heute in unseren Zellen schwingt.

2020, ein Jahr der Grenzerfahrungen

Nun, dazu muss ich ausholen. Ich habe im diesem Jahr Entscheidungen getroffen die für den Außenstehenden, und sogar für mir nahe Personen wahnsinnig erscheinen. Ich habe mein sicheres Dorf von 10.000 Menschen verlassen (zum Vergleich, es sind mehr Menschen in der SCS Vösendorf als in meinem Dorf war) und bin nach dem Sommer nach Wien gezogen. Der Vater meines Kindes lebt noch dort, und der erste Lockdown hatte etwas in mir verändert.

Der erste Lockdown

Im Frühjahr wurde ein Gefühl der Todesbedrohung in uns eingepflanzt. Wir wurden mit Informationen über ein gefährliches Virus versorgt, wir wurden in den Notbetrieb gestellt, und keiner wusste wie schwer alles ist. Niemand wusste wieviele Menschen sterben werden, wie hoch die Sterberate ist, oder wer betroffen ist. Aber es wurde massiv Angst erzeugt. Ich hatte meinen Vater, den Großvater meines Kindes, über einen Monat nicht gesehen um ihn zu schützen, ich hatte meine Geschwister, Freunde nicht gesehen, und ich hatte mein Kind zuhause. In dieser Zeit wäre ich wahnsinnig geworden, hätte mir der Vater meines Kindes nicht geholfen. Und so wollte ich mich annähern. Wollte zeigen, dass ich uns als Eltern schätze, und kündigte mit April meine Wohnung, den Kindergarten und alle Verträge. Ich schien bereit. Über den Sommer kamen Zweifel, aber da war alles schon vereinbart. Also Augen zu und durch.

Wien und seine Schmankerln

Ich kam im Herbst nach Wien, neuer Kindergarten, Wohnung, und nach zahlreichen Missverständnissen mit meinem Ex fand ich dann eine Wohngemeinschaft, wo ich versuchte mit meinem Kind anzukommen (Zum Thema Mama WG kommt noch ein eigener Beitrag). Es war nicht leicht, und es gab genug Probleme. Aber zusätzlich empfing mich ein kaltes maskentragendes Wien. Menschen die nur mehr über die Maßnahmen sprachen. Menschen die einen in der Bahn wegen des Mundschutzes verbal angriffen. Und dann im November 2020 auch noch ein Terroranschlag. Ich habe in Wien 18 Jahre lang gelebt. Aber die Energie dieser Zeit war unfassbar. So eine Angst, so eine Schockstarre, Misstrauen und Traurigkeit. Ich kannte das nicht von meinem Wien. Alle Strategien halfen nichts mehr, Wien schien mir gefährlich, voller Zombies, und kein sicherer Ort für mein Kind. Also schnappte ich ihn und floh zu dem Ort an dem ich bisher immer Ruhe fand. Mein Elternhaus. Und wäre auch bereit hier zu bleiben. Zu akzeptieren, dass ich am Land lebe, Kultur und Kunst weit weg sind, soziale Kontakte durch Distanzen erschwert und meine geliebten Tanz und Yogakurse in weiter Ferne. Alles das schien möglich, und ich richte hier auch noch nach wie vor ein Zimmer her. Aber, und nun kommt das Aber an das ich nicht gedacht habe.

Die Schuldfrage.

Ich hab einen fünfjährigen Sohn. Der geht in den Kindergarten, trifft andere Kinder. Ich bin selber kontaktfreudig, spreche mit anderen, tausche mich mit anderen aus. Ich trage keinen Mundschutz aus gesundheitlichen Gründen( die nur meinen Arzt und mich was angehen). Und ich fahre öffentlich.
Nun ist mein Vater schon ein wenig älter. Klar, ich bin ja auch keine 20. Und er ist das, was ansich als Risikopatient geführt wird (auch das betrifft seinen Arzt und ihn) Und obgleich mein Vater immer sagt, er liebt es uns um sich zu haben, im selben Zug merke ich die schleichende Schuldfrage. Denn. Würden ich oder mein Kind dieses Virus mit nach Hause nehmen würden wir vermutlich nichts davon spüren, oder wenig. Würde er es aber dann weitertragen, KÖNNTE er damit Probleme bekommen. Anfangs wollte ich seinen Worten glauben, dem „ich habe keine Angst, es is schön dass ihr hier seid“ Aber nun bin ich an einem Punkt, wo ich das nicht mehr kann. Denn ich spüre die Angst von ihm. Jede Verkühlung scheint plötzlich eine Todesbedrohung zu sein. Ich spüre die Angst meiner Geschwister, die eine Gefährdung befürchten, weil ich mal in der nächsten Stadt war, oder Menschen ohne Mundschutz getroffen habe.

Und ich spüre die Schuld die in mir erzeugt wird. „Du gefährdest deinen Vater, du bist egoistisch, es ist ja nur ein bisschen zuhause bleiben, das kann ja nicht sein dass du nicht an andere denkst, du wirst doch wohl verzichten können“ sind die Sachen die man hört. Und ich spüre. Wenn mein Vater nun krank wird, werden alle Finger auf mich und mein Kind zeigen. Und noch schlimmer, wenn mein Vater auf der Intensivstation liegt, werden alle auf mich zeigen, und sagen ich sei „schuld“.

War die Person die meine Mutter mit Grippe angesteckt hat schuld an ihrem Tod?

Ist der Patient der sein Leben lang gesoffen und geraucht hat schuld an seiner Krebserkrankung?

Ist der Krieg schuld an der Depression eines Großvaters?

War die Familie des Familienvaters schuld am frühen Herzinfarkt der ihm das Leben kostete weil er Tag und Nacht für seine Familie arbeitete?

Waren die Kinder, oder der Mann einer Selbstmörderin schuld an ihrem Tod, weil sie keine Kraft mehr hatte?
(Dies sind übrigens alles Beispiele die ich persönlich kenne)

Wo trennen wir die Schuld von der Ursache, vom Lebensweg, vom Schicksal? Und wie kommt eine Gesellschaft in der ich mich befinde, in der Menschen sind die ich liebe und die mich lieben, wie kommt diese Gesellschaft dazu, mir solche Gefühle zu machen?

Unsere Kinder

Und noch weiter gefragt. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich kann solche Gefühle analysieren, ihnen damit die Angst nehmen, relativieren. Aber Kinder können das nicht in dem Ausmaß. Wenn ein Kind niest und im selben Zug Angst bekommt, es könnte Oma oder Opa tödlich anstecken, was machen wir mit den Seelen dieser Kinder? Wir sagen ihnen sie sind Todesmaschinen. Wir sagen ihnen ihr Atem, ihre Spucke ist todbringend. Beides übrigens Dinge die wir durchaus brauchen als humane Wesen. Wir erklären ihnen (kinderfreundlich) dass diese bösen Viren alle umbringen, und deswegen sollen sie doch den Mundschutz tragen damit Oma und Opa nicht krank werden oder sterben.

Nochmal. Ich bin eine erwachsene Frau und mir sollte diese unbewussten Schuldzuweisungen nichts machen. Tun sie aber doch. Ein Kind ist dem hilflos ausgesetzt. Bitte lasst diesen Sche*** Das hat nichts mit kinderfreundlich zu tun, das ist Folter an der kindlichen Seele.

Die Erinnerung an die Nazi verbrechen.

Unsere Großeltern fragten wir, warum hast du nichts getan. Und sie sagen dann, ich wusste nichts, und tief drinnen wissen wir alle, dass es unmöglich war, dass sie nichts wussten. Denn dieser Mann hat ihnen gesagt was er tun wird, er hat es sogar nochmal in einem Buch klar geschrieben.
Tief drinnen wissen wir auch, dass sie eventuell partizipiert haben von den Plünderungen in den jüdischen Wohnungen, dass sie sich vielleicht sogar gefreut haben dass es andere trifft oder dachte die Person verdient es. Tief drinnen wissen wir dass sie nicht geholfen haben, obwohl sie gekonnt hätten. Und tief drinnen steckt das schlechte Gewissen den Tod dieser Leute nicht verhindert zu haben.

Und das ist der Haken wo der Riesenfisch der Angst gerade baumelt. Wir wollen ja nicht so sein wie unsere Großeltern. Wir wollen anders sein. GUTMENSCHEN und keinesfalls SCHULD am Tod einer Person (Anmerkung, die Todesrate dieses Virus ist nicht vergleichbar mit anderen hochansteckenden Epidemien). Wir machen ALLES um uns moralisch zu „enthaften“ Wir machen alles um Gutmenschen zu sein.

Dabei zerstören wir die Seelen unsere Kinder, lassen unsere Alten vereinsamen, und nebenher die Wirtschaft crashen. Aber die ist dann eh egal, wenn das System kollabiert. Die Menschen, die sind mir nicht egal. Und um die sollten wir uns WIRKLICH kümmern.

Mein Resümee. Damoklesschwert

Ich weiß nicht ob ich mit diesem ständigen Damoklesschwert über uns leben mag. Ich will nicht das Gefühl bekommen eine Gefahr zu sein. Schon gar nicht will ich das für mein Kind. Ich habe damals niemanden dafür verantwortlich gemacht, als meine Mutter gestorben ist (außer vielleicht die Ärzte die offensichtlich Fehler gemacht haben). Aber das scheint aus einer anderen Epoche zu kommen. Die Neue Zeit heißt „Blamegame“. Wohin es geht, ich kann es nicht wirklich sagen. Aber ich weiß der Dezember wird turbulent. Denn es ist nicht zu erwarten, dass plötzlich in der grippestärksten Zeit in Mitteleuropa die Menschen wie durch ein Wunder alle gesund sind. Die hochkochenden Emotionen sind auf allen Ebenen spürbar. Ich will mich wappnen. Werde noch stärker in die Ruhe kommen, und meine Klarheit finden. Und das ganze mit Abstand und Distanz.

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